«Die Spitex verfügt über gute Bedingungen für selbstorganisierte Formen der Arbeitsorganisation»
Prof. Dr. Dörte Resch leitet an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) das Institut für Kooperationsforschung und -entwicklung. Im Interview äussert sie sich zu den Herausforderungen, denen sich die Spitex-Organisationen in Zeiten des Wandels stellen müssen. Und sie ordnet das Potenzial von Employer Branding und Corporate Influencern in der ambulanten Pflege ein.
Text: Eva Zwahlen
Dörte Resch, Ihr Institut widmet sich Fragen zu Chancen und Herausforderungen der Zusammenarbeit, die sich durch die zunehmende Mobilität, Vernetzung und Digitalisierung von Arbeit und Bildung verändert. Auch die Spitex-Branche muss sich auf verschiedenen Ebenen auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen einstellen und vorbereiten. Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen?
Ich sehe die grössten Herausforderungen vor allem in diesen Bereichen:
- Fachkräftemangel und Weiterbildung: Die Spitex-Branche steht weiterhin vor dem Problem eines zunehmenden Fachkräftemangels. Es ist von grosser Bedeutung, nicht nur die Organisationen selbst attraktiver zu machen, sondern auch das Berufsbild der Pflege und dessen attraktiven Elemente in den Vordergrund zu stellen. Flexibilität in den Arbeitsmodellen, Entwicklung der Arbeitsbedingungen sowie Ermöglichung von innovativen Weiterbildungsformaten sind hierbei Schlüsselfaktoren. Denn nur wenn die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden attraktiv sind, bleiben die Mitarbeitenden auch im Beruf.
- Digitalisierung und technologische Integration: Die fortschreitende Digitalisierung und der Einsatz neuer Technologien ermöglichen bei gezieltem Einsatz grosse Innovationen in der Arbeits- und Arbeitszeitgestaltung. Es ist daher wichtig, dass Mitarbeitende kontinuierlich im Umgang mit den jeweils neuen Technologien geschult und unterstützt werden. Wie dies möglich sein kann, wird auch überall dort sichtbar, wo auf agile und selbstorganisierte Arbeitswesen umgestellt wurde.
- Veränderte Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten: Gesellschaftliche Veränderungen und der demographische Wandel führen auch zu veränderten Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten. Es ist wichtig, diese zu antizipieren, um proaktiv planen zu können und eine personenzentrierte Versorgung sicherzustellen.
- Resilienz und Flexibilität: Die Fähigkeit, schnell und adäquat auf unvorhergesehene Ereignisse und Veränderungen zu reagieren, ist unerlässlich. Resilienz ist somit nicht nur eine individuelle, sondern auch eine team-, prozess- und organisationale Herausforderung, dies es zu entwickeln gilt.
- Interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachbereichen und Dienstleistern wird immer wichtiger. Eine erfolgreiche interdisziplinäre und und interprofessionelle Kooperation erfordert klare Kommunikationsstrukturen und ein gemeinsames Verständnis der Aufgaben und Ziele.
Diese Herausforderungen erfordern einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl technologische Innovationen als auch menschliche und organisatorische Faktoren berücksichtigt, um die Qualität und Effizienz der Spitex-Dienste langfristig sicherzustellen.
Im Bereich der häuslichen Pflege ist seit einigen Jahren auch in der Schweiz der Trend zu beobachten, die Dienstleistungen durch selbstorganisierte Teams und näher bei den Klientinnen und Klienten zu erbringen. Ist die Spitex für solche Organisationsformen besonders geeignet? Welche Voraussetzungen müssen für deren Gelingen erfüllt sein?
Wie viele erfolgreiche Beispiele des auf die Schweiz und der jeweiligen Region adaptierten Beispiels von Buurtzorg zeigen, sind Spitex-Organisationen für selbstorganisierte Teams besonders geeignet. Dabei sind folgende Voraussetzungen wichtig:
- Autonomie und Eigenverantwortung: Selbstorganisierte Teams sollten einen hohen Grad an Autonomie haben, um Entscheidungen direkt vor Ort treffen zu können. Dies ist besonders wichtig in der häuslichen Pflege, wo schnelle und individuelle Lösungen gefragt sind. Gleichzeitig bedeutet dies für Führungskräfte, dass sie Verantwortung ab- und Vertrauen und Unterstützung geben.
- Qualifizierte Fachkräfte: Die Mitglieder des Teams sollten gut ausgebildet und erfahren sein, um die komplexen und vielfältigen Anforderungen der Pflege zu bewältigen. Eine fundierte Ausbildung und regelmässige Weiterbildungen sind entscheidend.
- Teamzusammenhalt und Kommunikation: Ein starkes Teamgefühl und eine offene Kommunikationskultur sind essenziell. Dies umfasst regelmässige Teambesprechungen, transparente Entscheidungsprozesse und eine klare Aufgabenverteilung.
- Effektive Ressourcennutzung: Die Teams sollten effizienten Zugang zu den benötigten Ressourcen haben, sei es medizinisches Material, technische Hilfsmittel oder Unterstützungsdienste. Eine gute Logistik und finanziellen Spielraum sind hier wichtig.
- Unterstützende Führung: Selbstorganisation bedeutet nicht das völlige Fehlen von Führung. Eine unterstützende Führungskraft, die als Coach oder Mentor fungiert und die Teams in ihrer Autonomie stärkt und unterstützt, ist von Vorteil.
- Klient*innenorientierung: Die Bedürfnisse und Wünsche der Klientinnen und Klienten sollten im Mittelpunkt stehen. Dies erfordert eine enge und flexible Zusammenarbeit mit ihnen und eine kontinuierliche Anpassung der Pflegeleistungen an ihre sich ändernden Bedingungen.
Diese Voraussetzungen schaffen ein Umfeld, in dem selbstorganisierte Teams ihre Potenziale voll ausschöpfen und eine hohe Qualität der Pflege gewährleisten können. Insgesamt bietet die Spitex aufgrund ihrer strukturellen und sozialen Gegebenheiten gute Bedingungen für selbstorganisierte Formen der Arbeitsorganisation.
Welche Leadership-Fähigkeiten sollten Führungskräfte angesichts von Konzepten wie New Work mitbringen, um Spitex-Organisationen erfolgreich durch den Wandel zu bringen?
Es werden immer so viele Anforderungen an Führungskräfte gestellt, dass ich manchmal den Eindruck habe, dass diese Superheldinnen und -helden sein müssen. Allgemein ist es in stark selbstorganisierten Organisationen insgesamt wichtig, dass klar ist, wer welche Verantwortung übernimmt. Bei der Übernahme von Verantwortung ist es wesentlich, dass an der jeweiligen Stelle die Verantwortung sowohl für die positiven wie auch die schwierigen Dinge übernommen wird. Es kommt bei verteilter Verantwortung häufig vor, dass die schwierigen Themen ausschliesslich «nach oben» delegiert werden, während die positiven bei einem selbst bleiben. Zusätzlich wichtig sind Anpassungsfähigkeit, damit flexibel auf Veränderungen reagiert werden kann, sowie Empathie, um Mitarbeitende in einem zum Teil auch emotional herausfordernden Arbeitsumfeld zu unterstützen. Konfliktlösungsfähigkeiten können auch relevant sein, gerade wenn es in selbstorganisierten Teams zu Differenzen und Auseinandersetzungen kommt.
Diese Kompetenzen sind auch in anderen Führungssituationen wichtig. Allerdings muss Führung immer auch passend auf die jeweilige Situation, die Menschen und Herausforderungen sein. Daher kann es gut sein, dass es in einer anderen Change-Situation für Führungspersonen viel relevanter ist, beispielsweise eine Strategieentwicklung voranzutreiben.
Viele Organisationen investieren mittels Employer Brandings in ihre Arbeitgeberattraktivität, um Mitarbeitende zu halten und für sich zu gewinnen. Was kann die Spitex tun, um sich angesichts des Fachkräftemangels von der Konkurrenz abzuheben? Was sind die Grenzen von Employer Branding?
Hier stellt sich als erstes die Frage, ob es um ein Employer Branding für die Spitex oder Pflegeberufe insgesamt geht Wenn die Spitex im Fokus ist, dann gehört ein strategisches Konzept mit Inhalten dazu, welches die Zielgruppe und deren Präferenzen sind und wie dies zu vorhandenen Stärken der Spitex passt. Wichtig ist hierbei, dass sich die Spitex positiv von anderen Organisationen absetzt, die ebenfalls nach den begehrten Pflegekräften suchen. Auf Basis des strategischen Konzeptes kann dann konsistent über verschiedene Kanäle ein Kommunikations- und Marketingkonzept entwickelt und umgesetzt werden.
Wenn der Pflegeberuf an sich im Vordergrund stehen soll, dann ist es zunächst wichtig, Allianzen mit den relevanten Verbänden, Ausbildungsträgern und Organisationen zu schliessen, um verbindendende Elemente zu finden und gemeinsam das Image des Berufes so zu verändern, dass dieser für neue Zielgruppen attraktiv wird.
Menschen folgen Menschen: Corporate Influencer werden in vielen Organisationen strategisch eingesetzt, um auf den Sozialen Medien authentische Einblicke in den Arbeitsalltag zu ermöglichen. Welche Voraussetzungen müssen in den Organisationen erfüllt sein, damit solche Programme funktionieren? Welches Potenzial sehen sie für die Spitex-Branche?
Grundsätzlich können Corporate Influencer die Sichtbarkeit für die Spitex-Branche erhöhen. Dies sollte aber insgesamt in eine vorangehende Analyse zu den Bedürfnissen der relevanten Zielgruppen und den dazu passenden Stärken der Spitex beruhen. Denn wie zuvor angetönt, entfaltet eine solche Umsetzung nur dann messbare Wirkung, wenn sie passgenau zur entwickelten Strategie und dem geplanten Impact passt. Anderenfalls droht die Gefahr, dass es zwar toll aussieht, aber an der relevanten Zielgruppe vorbei geht.
Weitere Informationen
- Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), Institut für Kooperationsforschung und -entwicklung
- Kampagne Spitex Schweiz «Gute Pflege heisst»
- Kampagne Spitex Schweiz, ARTISET und OdA Santé «Mach Karriere als Mensch
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