«Fehlen auf Leitungsebene klare Signale, Strukturen oder Gefässe zur sektorenübergreifenden Zusammenarbeit, bleibt diese oft zufällig»
Nicolaj Sprecher, MScN sowie Leiter psychosoziale Spitex bei Thurvita, führte am diesjährigen APN-Symposium der Berner Fachhochschule (BFH) einen Workshop zur sektorenübergreifenden Zusammenarbeit von Advanced Practice Nurses (APN) durch. Im Interview weist er auf die Erfolgsfaktoren und Hürden dieser Zusammenarbeit hin.
Text: Eva Zwahlen
Nicolaj Sprecher, Mitte Mai 2025 fand der 6. APN-Kongress der Berner Fachhochschule (BFH) zum Thema «zielgerichtet und systematisch» statt (siehe Kasten unten). Gemeinsam mit Evelyne Graf, MScN/Nurse Practitioner und Fachverantwortliche im Gesundheitszentrum Medbase Wil, führten Sie durch den Workshop «Sektorenübergreifende Zusammenarbeit von APNs» am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Medbase und Thurvita (siehe Kasten). Wie sieht diese Zusammenarbeit in der Praxis aus, welche Berührungspunkte haben Sie?
Die Zusammenarbeit zwischen Medbase[1] und Thurvita findet auf zwei zentralen Ebenen statt:
- direkt in der Versorgung von Klient:innen und
- auf Leitungsebene zwischen unseren Organisationen
Im Alltag begegnen wir uns vor allem dann, wenn Menschen mit komplexen, oft chronischen Erkrankungen betreut werden – also dann, wenn somatische, psychische und soziale Herausforderungen zusammenkommen. Das kann zum Beispiel bei instabilen Krankheitsverläufen, schwierigen Lebensumständen oder einem erhöhten Koordinationsbedarf der Fall sein. In solchen Situationen stimmen sich die fallverantwortlichen Pflegefachpersonen der Spitex und das Chronic-Care-Team von Medbase eng miteinander ab, sei es durch gemeinsame Hausbesuche, durch Praxisgespräche oder über telefonische oder schriftliche Absprachen. Wichtig ist uns, dass wir nicht einfach parallel arbeiten, sondern aktiv klären: Wer übernimmt welche Rolle? Wo braucht es Unterstützung? Und wie ergänzen wir uns sinnvoll?
Darüber hinaus stellt sich für uns als Leitungspersonen die Frage, wie wir Rahmenbedingungen schaffen können, damit diese Form der Zusammenarbeit nicht dem Zufall überlassen bleibt. Sie passiert nicht automatisch, sie braucht Zeit, gegenseitiges Verständnis für unterschiedliche Rollen - und das Wissen darum, was die andere Seite leisten kann und was nicht. Genau deshalb legen wir grossen Wert auf den gegenseitigen Austausch: sowohl im konkreten Alltag als auch in strukturierten Gefässen wie Netzwerktreffen oder Sitzungen. Unser Ziel ist es, sektorenübergreifende Zusammenarbeit nicht nur punktuell zu ermöglichen, sondern sie als Teil eines systematischen und professionellen Miteinanders zu etablieren.
Wo stellen Sie in der sektorenübergreifenden Arbeit Herausforderungen fest? Welches sind die Erfolgsfaktoren für eine gelingende Zusammenarbeit?
Eine Herausforderung in der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit ist ihre Abhängigkeit von Einzelpersonen – von ihrer Haltung, ihrem Engagement und schlichtweg davon, ob sie im Alltag überhaupt Zeit für diese Form der Zusammenarbeit haben. Fehlen auf Leitungsebene klare Signale, Strukturen oder Gefässe zur Zusammenarbeit, bleibt diese oft zufällig und setzt erst dann ein, wenn Situationen bereits instabil oder eskaliert sind. Gerade dann ist aber die Zeit für sorgfältige Koordination knapp und das gegenseitige Verständnis leidet darunter.
Hinzu kommen strukturelle Hürden: unterschiedliche Ausbildungswege, abweichende institutionelle Logiken und verschiedene Dokumentationssysteme machen die Abstimmung nicht einfacher. Fragen wie «Wer macht was?» oder «Wer ist zuständig?» bleiben im Alltag oft unbeantwortet – nicht, weil niemand will, sondern weil es oft an etablierten Wegen fehlt, diese Fragen gemeinsam zu klären. Orientiert man sich am Modell zur interprofessionellen Zusammenarbeit von Mulvale et al. (2016), so zeigt sich, dass die Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen stattfindet:
- auf der Ebene der Struktur,
- der Organisation,
- des Teams und
- des Individuums.
Nicht alle dieser Ebenen können wir direkt beeinflussen, etwa das Tarifsystem oder gesetzliche Rahmenbedingungen. Aber ein grundlegendes Verständnis dafür, wie diese Rahmenbedingungen wirken, hilft uns im Alltag enorm: Wir wissen besser, welche Rolle jemand übernehmen kann und wo die Grenzen liegen. Auf der Ebene von Organisation und Team hingegen haben wir mehr Handlungsspielraum. Dort können wir gezielt Gefässe schaffen, in denen regelmässiger Austausch stattfindet – nicht erst im Notfall, sondern als fester Bestandteil der Versorgung. Eine offene Kommunikation spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie gelingt umso besser, wenn man sich kennt und gegenseitiges Vertrauen besteht. Persönliche Kontakte und ein gewisser informeller Draht sind im Alltag oft der Schlüssel zur erfolgreichen Zusammenarbeit.
Ebenso entscheidend ist eine Führung, die sektorenübergreifende Kooperation nicht als Mehraufwand betrachtet, sondern als Teil ihres Versorgungsverständnisses aktiv unterstützt. Gute Zusammenarbeit spart auf lange Sicht nicht nur Zeit und Ressourcen, sondern verhindert unnötige Doppelspurigkeiten und sorgt dafür, dass Klientinnen und Klienten sich im Versorgungssystem besser zurechtfinden.
Sie leiten die psychosoziale Spitex bei Thurvita. Dabei sind Sie eng in die Versorgung von Patient:innen mit psychiatrischen und somatischen Komorbiditäten eingebunden. Ihre Arbeit umfasst allerdings nicht nur die direkte Betreuung der Patient:innen, sondern auch die Koordination von weiteren Healthcare Professionals sowie die Zusammenarbeit mit Beiständen, der Kesb und verschiedenen Ämtern. Wo sehen Sie den Mehrwert von Advanced Practice Nurses (APN) in diesem Setting?
APN bringen die Kompetenzen mit, die es in komplexen Versorgungssituationen braucht: fundiertes Fachwissen, klinische Erfahrung und den Blick fürs Ganze. In der psychosozialen Spitex betreuen wir viele Klientinnen und Klienten mit mehrfachen Herausforderungen – psychisch, somatisch, sozial. Oft kommen rechtliche oder betreuungsrechtliche Aspekte hinzu. In solchen Situationen reicht es oft nicht, nur die jeweils eigene Aufgabe gut zu erfüllen. Es braucht ein Verständnis für die Zusammenhänge, die Fähigkeit zur Koordination und den Mut, über den eigenen Bereich hinauszudenken. Genau hier können APNs einen wichtigen Beitrag leisten. Sie bringen nicht nur pflegerisches Know-how mit, sondern auch die Kompetenz, Abläufe zu strukturieren, Prioritäten zu setzen und unterschiedliche Berufsgruppen zusammenzubringen.
Was APNs in diesem Kontext besonders auszeichnet, ist die Fähigkeit, Pflege nicht nur im unmittelbaren Tun zu denken, sondern auch in der Gestaltung von Zusammenarbeit und Versorgung. Sie arbeiten dabei mit anderen Fachpersonen auf Augenhöhe – immer mit dem Ziel, für die Klientinnen und Klienten eine tragfähige und koordinierte Unterstützung zu ermöglichen. In diesem Sinne verstehe ich APNs als verbindende Rolle und als Ergänzung dort, wo komplexe Situationen mehr Abstimmung und Übersicht verlangen.
«Aktiv die Zukunft der Spitex gestalten»
Die diesjährige Delegiertenversammlung (DV) des Spitex Verbands SG|AR|AI fand bei Thurvita AG statt. Thurvita bietet in Wil (SG) stationäre, intermediäre und ambulante Leistungen an. Die psychosoziale Pflege von Thurvita unterstützt erwachsene Menschen in allen Lebenslagen bei der Bewältigung von belastenden Lebenssituationen oder psychische Erschütterungen, die dazu führen können, dass der Alltag zu einer unüberwindbaren Herausforderung wird.
Weitere Informationen
6. APN-Kongress Berner Fachhochschule (BFH)
Die Arbeit der Advanced Practice Nurse (APN) ist vielseitig. Gemeinsam mit vielen Personen- und Anspruchsgruppen geht es um eine möglichst optimale Behandlung, Betreuung und Versorgung der verschiedensten Patient:innen. Und zwar zielgerichtet und systematisch. Die Ausschöpfung des Tätigkeitsspektrums von APN verbessert die Effizienz und Effektivität des Gesundheitssystems.
Der diesjährige 6. APN-Kongress der Berner Fachhochschule (BFH) stand daher unter dem Motto «zielgerichtet und systematisch». Unter diesem Fokus standen Themen wie Rollenprofile und interprofessionelle Zusammenarbeit im Mittelpunkt.
Weitere Beiträge zur «Spitex im Wandel» finden Sie hier.
[1] Medbase verfügt über ein umfassendes medizinisches, therapeutisches, pharmazeutisches und zahnmedizinisches Angebot. Hausärztinnen und -ärzte, Apothekerinnen und Apotheker, Spezialistinnen und Spezialisten, Therapeutinnen und Therapeuten, Zahnärztinnen und -ärzte und weitere Gesundheitsfachpersonen arbeiten Hand in Hand.